„Wer Visionen hat, braucht einen Arzt“, dieser dem ehemaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt zugeschriebene Ausspruch scheint immer noch das unausgesprochene Credo nicht nur der herrschenden Politik, sondern auch der gesamten Art des Wirtschaftens und unserer Gesellschaft überhaupt geworden zu sein. Die scheinbaren Pragmatiker und „Realos“ sind am Ruder, Ansätze zu einer menschengerechten Umgestaltung des profitorientierten neoliberalen Systems werden meist schnell als Sozialromantik und Phantasterei beiseitegeschoben. Doch sind die Ergebnisse der angeblich so pragmatischen Denkweise in der Praxis leider ausgesprochen ernüchternd. Damit einher geht die verhängnisvolle Entwicklung, dass viele Bürger von Politik am Liebsten nichts mehr wissen wollen und das bisherige Verständnis von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zunehmend in Erosion gerät – ein Szenario, vor dem Platon gewarnt hat, denn:
Diejenigen, die zu klug sind, sich in der Politik zu engagieren, werden dadurch bestraft, dass sie von Leuten regiert werden, die dümmer sind als sie selbst. (Platon, Politeia I 347c)
Die Erfahrung zunehmender Frustration, die sich hierzulande über Jahrzehnte hinweg aufgebaut hat, vollzieht sich in anderen Teilen der Welt gerade im Zeitraffer. In Ländern wie Ägypten, die soeben erst der Diktatur entwachsen sind und nun mit dem vermeintlichen Segen der Demokratie und des Wählen-Dürfens bedacht wurden, hört man protestierende Menschen in die Fernsehkameras schreien: „Wenn das Demokratie ist, dann brauchen wir sie nicht!“ Doch nicht nur in Afrika, Südamerika und dem Nahen Osten droht die Frustration über die derzeitige Art von Realpolitik zu eskalieren, auch in Mitteleuropa (siehe z.B. Gelbwesten-Proteste in Frankreich) begehren die Menschen auf. Der existenzielle Leidensdruck ist bereits groß, viele Bürger fühlen sich heute mit dem Rücken zur Wand stehend und scheuen auch nicht davor zurück, ihre Gesundheit und ihr Leben aufs Spiel zu setzen, um gegen die herrschenden Verhältnisse auf die Straße zu gehen. Das offenkundige Scheitern der derzeitigen Art von Politik ist nicht ungefährlich für den Fortbestand von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen, wie wir sie bisher gekannt haben.
Auch hinsichtlich sozialer und arbeitsrechtlicher Errungenschaften drohen wir in frühkapitalistische Zustände zurückzufallen (siehe z.B. Clickworking). Der Staat zieht sich aus seiner Verantwortung zunehmend zurück und Politiker fühlen sich weniger dem Gemeinwohl, sondern mehr den Interessen von Großkonzernen verpflichtet. Politikwissenschaftler sprechen bereits von einer Post-Demokratie, in der wir leben. Obwohl wir uns aufgeklärt und am Gipfel der wissenschaftlichen Vernunft wähnen, scheinen wir immer tiefer in Ausweglosigkeit zu geraten. Von „sozialen Verwerfungen“ ist die Rede, die demnächst über uns hereinbrechen würden.
„Leben in Zeiten der Ultradekadenz“ lautet der Titel einer Rezension zum jüngsten Dokumentarfilm „Generation Wealth“, in welchem gezeigt wird „wie Luxus und Materialismus unsere Kultur zerstören“. – Wobei es bemerkenswert ist, dass der Begriff Materialismus in dieser Rezension überhaupt noch verwendet wird. Haben wir den naturwissenschaftlich-darwinistisch geprägten Materialismus doch bereits so sehr internalisiert und zur fraglosen Grundlage unseres Lebensstils gemacht, dass es fast befremdlich erscheint, wenn ihn noch jemand beim Namen nennt. Allenfalls spricht man heute von Kapitalismus oder von Neoliberalismus und benutzt damit Wörter, welche das Wesen des eigentlichen (weltanschaulichen) Problems wieder verschleiern. Indes werden die verheerenden Folgewirkungen dieser materialistischen Welt- (und Menschen-)anschauung immer unübersehbarer. Sogar die Kinder sehen sich veranlasst, in Massen auf die Straßen zu gehen, da sie bei Fortsetzung des derzeitigen Kurses einen ökologischen Kollaps befürchten. Regierungen rufen den „Klima-Notstand“ aus, da eine irreversible Zerstörung unserer Biosphäre in Aussicht steht. Neben der Zerstörung auf äußerer Ebene findet auch eine innere Destruktion statt. Burnout, Depressionen und Angstzustände grassieren.
Wie auch Prof. Rainer Mausfeld feststellt (>>Nachdenkseiten), wird das Scheitern des gegenwärtigen Systems überraschenderweise auch von den maßgeblichen Verantwortungsträgern in Politik und Ökonomie eingestanden. Mausfeld: „Nur dass sie daraus entgegengesetzte Konsequenzen ziehen: Sie verzichten nämlich zunehmend vollends auf eine Demokratierhetorik und bedienen sich lieber einer Sicherheits- und Stabilitätsrhetorik, mit dem Ziel, die Bürger zu einer weiteren Selbstentmündigung zu verleiten, sodass die Widerstände gegen die Errichtung eines autoritären Präventions- und Sicherheitsstaats möglichst gering sind.“
Vielerorts wird der Ruf nach einem Ende des Kapitalismus laut. Gleichzeitig fehlt es an wirkungsvollen Hebeln, um eine Änderung herbeizuführen und gewinnt die kapitalistisch-materialistische Denk- und Wirtschaftsweise immerzu gewaltigere Dominanz.
In einer Zeit, in der selbst hochkomplexe wirtschaftstheoretische Modelle ihre Gültigkeit verlieren und wir die Lösung in noch weiterer Komplexitätssteigerung durch selbstlernende „Künstliche Intelligenz“ sehen (>>Link/Artikel in Arbeit – siehe auch Rubikon: „Orwell 3.0“), mag es vermessen erscheinen, die Funktionsweise der Gesellschaft auf eine einfache Formel aus der klassischen Philosophie zu reduzieren.
Obwohl heute – in vieler Hinsicht auch zurecht – vor Verkürzungen gewarnt wird und man die Deutungshoheit stattdessen in der Hand von „Experten“ sehen möchte, die mit einer für Normalbürger teilweise kaum verständlichen Fachsprache aufwarten können, so wollen wir einen solchen Kunstgriff der Vereinfachung dennoch wagen. Denn wenn wir ihn in richtiger Weise auffassen, vermag er uns unsere individuelle Handlungsfähigkeit wiederzugeben. Frustration hätte dann keinen Raum mehr. Haben wir diese Handlungsfähigkeit wieder errungen, dann können wir auch alle komplexeren uns heute zur Verfügung stehenden Werkzeuge inklusive Künstlicher Intelligenz auf ein neues, menschenwürdiges und zukunftsfähiges Fundament stellen und nutzbar machen. Ohne diese individuelle Handlungsfähigkeit ist es jedoch absehbar, dass uns die neuen technologischen Möglichkeiten selbst zum Verhängnis werden und wir auf eine Orwell’sche Dystopie zusteuern.
Wer die nachfolgende Simplifizierung in ihrer Tragweite erkennt, wird auch das Paradoxon realisieren, dass es sich geradewegs umgekehrt verhält: Dass diese simplen Formeln eigentlich die Tür zu einem außerordentlich komplexen Verständnis des Menschen, seiner Verantwortung und Stellung in der Welt eröffnen. Und dass die derzeit herrschenden, äußerlich komplizierten und lediglich von akkreditierten Experten interpretierbaren Erklärungsmodelle von Mensch und Welt in gewisser Hinsicht eine unglaubliche Simplifizierung und unzulässige Verkürzung der eigentlich gegebenen Wesensebenen darstellen – und vor allem: Dass in der bisherigen akademischen Betrachtungsweise der Faktor Mensch als ethisch veranlagtes Individuum aus allen Gleichungen eliminiert und ins Abseits gewiesen wird. Insofern braucht es auch nicht zu verwundern, warum der Mensch heute immer mehr unter die Räder gerät bzw. ihm der Boden entzogen wird.
Nach Durchschreiten dieser von Platon und Aristoteles geöffneten Tür kann man die derzeitige, intellektualistische Sicht von Mensch und Welt sogar als fatale Bequemlichkeit und trotz ihrer vorgeschützten Kompliziertheit als bloße Denkfaulheit erkennen, da sie nur die alleräußerste Schicht des sinnlich Wahrnehmbaren gelten lässt und das, was unser Wesen ausmacht, negiert. Die von Platon und vielen anderen großen Geistern der Menschheit erschaute Welt der Ideen und des sonnenhaft-schöpferischen Gedankens (>>siehe „Der sonnenhafte Gedanke im Unterschied zum Intellektualismus“) wird verneint. Menschen mit Visionen werden „zum Arzt geschickt“ oder zumindest aus dem öffentlichen Diskurs verbannt.
Wer diese Denkfaulheit überwindet, dem eröffnen sich allerdings ganz neue Horizonte. Horizonte, die durchaus wieder Begeisterung wecken und neues Selbstbewusstsein spenden können, da sie den Menschen in seine Selbstverantwortung stellen. Er wird dann nicht mehr auf neue Parteien, bessere Politiker, sozialere Systeme etc. warten, sondern selbst die Regie ergreifen. Gerüstet mit dem Unterscheidungsvermögen, das ihm eine auf wirklicher sophie (griech. Weisheit) beruhende Geisteswissenschaft (>>Link/Artikel in Arbeit) ermöglicht, kann er sich der Entwicklung der wesentlichsten Lebensqualitäten und moralischen Werte widmen, die ihm erst sein eigentliches Menschsein schenken – und dank derer er dann auch mit Umwelt und Mitmensch in ganz anderer Weise umgehen wird.
Wie in einem einleitenden Artikel (>>Sonnenläufer in Platons Schattenhöhle) ausgeführt, hat Platon bereits postuliert, wann der Zeitpunkt kommen werde, an dem Politik (von griech. pólis = Staat, Gemeinschaft von Bürgern) endlich dem Wohle des Ganzen dient und den zunehmenden Übeln eine Wende gegeben wird:
Solange die Philosophen nicht regieren (oder die Regierenden „echte und gründliche“ Philosophen werden), gibt es kein Ende der Übel.
Um nicht missverstanden zu werden, hat Platon hinzugefügt, dass philosophisch gegründete, also nach Weisheit als primärer Tugend strebende Menschen, keineswegs von sich aus eine Regierungsfunktion anstrebten. Da sie ihre persönliche Harmonie bereits in ganz anderen Ebenen gefunden haben, sei ihnen eine solche weltliche Position eine Last, man müsse sie also zur Übernahme einer solchen überreden.
Das Erringen von Weisheit war im Übrigen auch der Maßstab von Aristoteles, um zu beurteilen, ob ein Mensch moralisch ist oder nicht. Die diesbezügliche Definition des Aristoteles lautete schlicht:
Unmoralisch ist der Mensch, der nicht nach Weisheit strebt.
Man kann diese beiden Formeln von Platon und Aristoteles in ganz undogmatischer Weise zur Hand nehmen, um vollen Aufschluss darüber zu bekommen, warum sich die eingangs geschilderten Verhältnisse in den letzten Jahrzehnten derart verschlechtert haben und wir nun in vielerlei Hinsicht wie kurz vor einem Kollaps stehen. – Auch, warum Moral heute zu einer Kategorie erklärt wird, bei der man betreten beiseite sieht und die man am liebsten für obsolet erklären möchte. Nur „egoistische Gene“ (so auch der Titel eines populärwissenschaftlichen Buches) sollen es sein, welchen der Mensch Folge leiste – eine Sichtweise, welche so ganz nach dem Geschmack einer Wissenschaft ist, die Platon in seinem Höhlengleichnis als „Wissenschaft von den Schatten“ (>>Link/Artikel in Arbeit) bezeichnet.
Akzeptiert man das geistlos-nihilistische Welt- und Menschenbild dieser Wissenschaft, dann steht der neoliberalen Verwertungslogik nichts mehr entgegen, auf alle Ressourcen dieser Welt, inklusive der humanen, kann dann „evidenzbasiert“ zugegriffen werden. Und gegen nichts sträubt sich diese „Wissenschaft von den Schatten“ so sehr wie gegen Sonnenstrahlen, welche diejenige Realitätsebene zum Vorschein bringen, die Platon als die geistige Urbildewelten bezeichnet hat. Entgegen der herrschenden akademischen Lehre ist es keineswegs so, dass es eine valide und den Gesetzen der Logik entsprechende Wissenschaft über diese Urbildewelten, also eine Geisteswissenschaft im eigentlichen Sinne des Wortes, nicht gäbe. Man findet sie nur in der Regel nicht dort, wo man sie sucht: weder im Intellektualismus, noch in der landläufigen Trivialesoterik.
Nimmt man die beiden Formeln von Platon und Aristoteles bezüglich einer Vermehrung oder Verminderung der in der Welt bestehenden Übel ernst, dann könnte einen angesichts der heute verbreiteten Abneigung gegen Philosophie (wörtlich gr.: „der Liebe-zur-Weisheit“) in der sich lieber als pragmatisch dünkenden Politik durchaus ein regelrechter Schrecken erfassen. Auch Einstein meinte: „Die Probleme, die es in der Welt gibt, können nicht mit den gleichen Denkweisen gelöst werden, die sie erzeugt haben.“ Im Unterschied zu den noch vergleichsweise naiven Jahrzehnten des Wirtschaftsaufschwungs und Fortschrittseuphemismus vor der Milleniumswende befinden wir uns heute in der Situation, dass die dramatischen Konsequenzen einer solchen (nicht-philosophischen bzw. antisophischen >>LINK „Sophie und Antisophie“) Denkweise für unsere Zukunft bereits für jedermann absehbar sind.
Doch jeder mag den Wahrheitsgehalt der vorgenannten Formeln ganz unbefangen durch seine eigene Beobachtung überprüfen. Wer diese schlichten Formeln für unwissenschaftlich oder vermessen hält, der möge ruhig die Probe aufs Exempel machen: Er wähle sich eine beliebige, heute als fortschrittlich propagierte Maßnahme einer Partei, eines Politikers oder eines naturwissenschaftlichen Experten seiner Wahl aus – eine Maßnahme mit welcher man nach populärwissenschaftlichen Gesichtspunkten irgendein Gebiet des sozialen, ökologischen oder ökonomischen Lebens verbessern möchte, eine Maßnahmen, welche auch die breite Mehrheit zunächst wohl unzweifelhaft für gut und vernünftig befinden wird. Er möge dann die realen Auswirkungen dieser Maßnahme beobachten, die sich Monate oder Jahre nach ihrer Einführung für Mensch und Umwelt ergeben. Eventuell mag er sich nach Kenntnisnahme dieses Ergebnisses dann wieder an Platons Höhlengleichnis und an die Möglichkeit des sonnenhaften Gedankens entsinnen.
Wer sich diese Zeit der Beobachtung nicht einräumen möchte oder für wen die Auswirkungen einer schattenhaften Politik bzw. einer „Wissenschaft von den Schatten“ bereits jetzt mehr als offenkundig ist und wer einen Ausweg aus Platons Höhle sucht, d.h. sich um eine sonnenhafte Politik und eine sonnenhafte Wissenschaft bemühen möchte (welche die bisherige, auf die rein materielle Ebene bezogene und dort auch berechtigte Wissenschaft nicht ersetzt, sondern lediglich erweitert und in einen größeren Kontext stellt), der mag auf den demnächst folgenden Seiten einige weiterführende Anregungen erhalten.
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