Sonnenläufer in Platons Schattenhöhle

Die Wetterprognose ist leider wenig erfreulich: Es wird nass und kalt werden …

Wohl kaum ein anderes Bild aus der klassischen Philosophie spiegelt die Situation des heutigen Menschen derart anschaulich wider wie Platons Höhlengleichnis. Die hierbei skizzierte Situation hat sich heute sogar noch zur Potenz gesteigert, dank den Möglichkeiten einer mittlerweile perfektionierten Werbe- und Entertainmentindustrie jedoch auf raffinierte Weise kompensiert: Wir sitzen sinnbildlich in einer schwach beleuchteten, unterirdischen Behausung und wohnen einem Schattenspiel bei. Durch angeblich „alternativlose“ Sachzwänge an einen Stuhl gefesselt, können wir unseren Kopf nicht wenden, sondern lediglich in eine bestimmte Richtung blicken – auf eine Wand, an welche allerlei Schattengebilde projiziert werden. Die Lichtquelle, aufgrund derer die Schattengebilde überhaupt erst entstehen, befindet sich hinter uns, weit außerhalb des gewohnten Blickfeldes, auf das wir von Kindheit an konditioniert wurden.

Solange das „Programm“, das wir an der Wand zu sehen bekommen, unterhaltsam und der Sitz auf unserem Stuhl einigermaßen bequem ist, kommen wir auch nicht ohne Weiteres auf die Idee, an dieser Szenerie etwas zu ändern.

Neuerdings hat jedoch eine dramatische Entwicklung eingesetzt: Es beginnt nass und kalt zu werden. Regen dringt in die bislang komfortable Höhle ein und führt dazu, dass unsere Füße unter Wasser stehen. Viele von uns beginnen unruhig zu werden, denn der Wasserpegel steigt permanent weiter an und es ist bereits absehbar, dass womöglich bald die gesamte Höhle unter Wasser stehen wird. Für diejenigen, die dann immer noch auf ihren Stühlen verharren, bestehen also keine besonders rosigen Zukunftsaussichten.

Mit nassen Füßen in Platons Schattenhöhle Wie aus dieser prekären Situation entkommen?

Um uns aus der Situation, in der die meisten von uns bisher ‚gut und gerne‘ gelebt haben, die aber zunehmend verhängnisvoll wird, zu befreien, bedarf es zunächst einmal des Ablegens der Bande, die uns am Stuhl halten wollen. Eine zunehmende Anzahl an Menschen hat auch bereits damit begonnen, diese Bande abzulegen, indem sie der Berichterstattung bislang akzeptierter Autoritäten aus Politik und Medien nicht mehr traut und stattdessen in alternativen Medien nach einer Erklärung der aktuellen Geschehnisse sucht.

Und in der Tat gab es in den letzten Jahren vielerlei bemerkenswerte und scharfsinnige Analysen, welche den Niedergang auf politischer, ökonomischer, ökologischer, finanzmarkttechnischer, medialer und sozialer Ebene beschreiben und welche die Funktionsweise massenmedialer Manipulations- und Herrschaftstechniken beleuchten (siehe z.B. Prof. Rainer Mausfeld: „Wie die Lämmer zum Schweigen gebracht werden“). Dennoch ist unübersehbar, dass es weiter rapide bergab geht.

Inmitten zunehmender Verunsicherung und existenzieller Ängste wird unter den auf ihren Stühlen sitzenden (Hitech-)Höhlenbewohnern der Schrei nach einer „vernünftigen“ Politik und nach Garantien zur Sicherung des Wohlstands laut. Und unsere Politiker samt ihren Beratergremien und wissenschaftlichen Experten sind auch fortwährend damit beschäftigt, eine Vielzahl neuer Maßnahmen und Konzepte auszuarbeiten, die in einer aus den Fugen geratenden Welt wieder für Stabilität, Wirtschaftswachstum und Fortschritt sorgen sollen. Allerdings stellen sich die zunächst fortschrittlich anmutenden Konzepte meist sehr schnell als Sackgasse heraus, die nicht nur zum Status Quo zurückführt, sondern sogar in noch tiefere Abhängigkeiten und Ausweglosigkeit. Indes steigt der Wasserpegel weiter an. Denjenigen Höhlenbewohnern, die auf etwas tieferer Ebene sitzen, reicht er schon bis zum Hals. Auch diejenigen, die den Vorzug besaßen, auf etwas erhöhter Position zu sitzen und bislang noch leicht Lachen hatten, bekommen nun kalte Füße.

Wegweiser

Doch auch diejenigen, die sich bereits von ihren Fesseln befreit haben, von den Stühlen aufgestanden sind und sich umgedreht haben, irren nun wie orientierungslos durch den Raum und finden keinen Ausgang. Sie sind jetzt mit demjenigen Problem konfrontiert, das auch Platon in seinem Gleichnis schildert: Nachdem ihre Augen über lange Zeit auf eine schattenhafte Kulisse geblickt haben und nur mit der Logik der „Wissenschaft von den Schatten“ [Link / Artikel in Arbeit] vertraut gemacht wurden, sind ihre Augen nun, da sie sie sich endlich in diejenige Richtung umwenden, aus der die Sonne in die Höhle dringt, schmerzhaft vom Licht geblendet und verwirrt.

In dieser Situation der Blendung und Verwirrung fehlt es an notwendigen Mitteln zur Orientierung. Ohne Kompass, Karte und Wegweiser, die einem andeuten, in welcher Richtung sich der Weg nach oben befindet, ist man natürlich leicht geneigt, sich zu verlaufen oder einem der zahlreichen Irrlichter zu folgen, die nun ebenfalls die Aufmerksamkeit an sich ziehen möchten.

Gerade was diese „Wegweiser“ angeht, macht uns Platon in seinem Werk auf etwas aufmerksam, was uns in den Schulbüchern des Geschichtsunterrichts verschwiegen wird: Dass es zu allen Zeiten Menschen gegeben hat, die den Weg aus der Gebundenheit in einem illusionären Schattenspiel hinauf zum Sonnenlicht geistiger Erkenntnis in pionierhafter Weise bereits beschritten haben und danach fähig waren, ihren Mitmenschen von den ganz anders gearteten Gesetzmäßigkeiten zu berichten, welche außerhalb der Schattenhöhle auf der Ebene des Sonnenlichtes herrschen.

Sol Invictus / Heliodromus (3./4. Jhdt. n. Chr., Public Domain/wikimedia)

Sonnenläufer oder „Sonnenhelden“ (lat. heliodromus) nannte man solche Personen in alten Schriften und Überlieferungen. Das mag für heutige Begriffe pathetisch und anmaßend klingen, ist aber bei näherer Betrachtung eine nicht unpassende Terminologie für diejenigen Individualitäten, die es geschafft hatten, sich aus der mit der menschlichen Freiheit notwendigerweise einhergehenden Tendenz des Chaos und des Abreißens aller naturgegebenen bzw. kosmischen Rhythmik, wie sie den Umlaufbahnen der Gestirne zu eigen ist, zu befreien und welche die Kraft erlangt haben, den Rhythmus ihres Lebenslaufes gleich den regelmäßigen Umlaufbahnen der Gestirne um ein inneres, sonnenhaftes Zentrum darzuleben – nun allerdings nicht mehr unter Determination, sondern aus freiem Willen und auf kreativ- individualisierte Weise zum Wohle ihrer Mitmenschen und der gesamten Welt (siehe auch Platons Idee des „Guten“ als Ursprung aller Tugenden im Sonnengleichnis).

Jeder Mensch ein Sonnenläufer

Der Sonnenläufer bzw. „Sonnenheld“ ist also nicht bloß eine historische mythologische Figur, sondern ein allgemein-menschliches Entwicklungsideal, das gerade in unserer Zeit von höchster Aktualität ist und an das wir uns graduell annähern können, indem wir zu „Philosophen“ werden (nach wörtlicher Übersetzung: zu „nach Weisheit strebenden“ bzw. Weisheit-liebenden Menschen; von griech. philos=Freund und sophos/sophia=Weisheit). Es ist also nicht bloß besonders genialen oder begnadeten Menschen vorbehalten, ein Sonnenläufer bzw. ein Sonnenheld zu werden. Jeder von uns hat das Potential dazu. Einen solchen Sonnenhelden in sich zu gebären, ist auch das Sinnbild des Weihnachtsfestes, das in alten Kulturen schon vor der christlichen Zeitrechnung gefeiert wurde.  

Pythagoras etwa war ein solcher Sonnenheld. Was wir in den Schulbüchern über ihn erfahren, ist jedoch in der Regel nicht mehr, als dass er Mathematiker war und wir ihm den Satz der Winkellehre a2+b2=c2 zu verdanken haben. Den wenigsten ist wohl bekannt, dass der Satz des Pythagoras in Wirklichkeit nur ein vergleichsweise unbedeutendes Nebenprodukt eines Universalgelehrten war, der seinerzeit fast die gesamte Welt bereist hat, um Weistümer über den Zusammenhang von Mensch und Kosmos zu sammeln, in welche er in ägyptischen, babylonischen, arabischen und indischen Mysterienschulen eingeweiht wurde und welche er in einer eigenen Schule an zahlreiche Schüler weitergab. Laut Heraklit war Pythagoras derjenige Mensch, der das allermeiste Wissen über die verborgenen Zusammenhänge des Daseins gesammelt habe. Heute sind nur noch Fragmente dieses Wissens erhalten, der größte Teil wurde vernichtet. Ein wütender Mob des Volkes, aufgestachelt durch systematische Hetzkampagnen seines adeligen Gegners Kylon, stürmte die Behausung der Pythagoreer und lynchte den Weisheitslehrer. Auch seine in Süditalien und Sizilien ansässigen Schüler wurden systematisch verfolgt und umgebracht.

Pythagoras ereilte damit dasjenige Schicksal, das auch Platon in seinem Höhlengleichnis  als Gefahr für alle diejenigen schildert, die den Höhenweg zu den sonnenhaften Urbildern gegangen sind und nun ihren in der Höhle gefangenen Mitmenschen von den geistigen Realitätsebenen berichten wollen. Dazu Sokrates in Platons Dialog:

 „Und wenn er sich unterstände, sie zu entfesseln und hinauszuführen, – würden sie ihn nicht ermorden, wenn sie ihn in die Hände bekommen und ermorden könnten?“
„Ja, gewiss“, antwortete er.

Kompasse, Karten und Wegweiser werden auf diese Weise vernichtet und stehen der Menschheit nicht mehr, oder zumindest nicht mehr im notwendigen Maße, zur Verfügung.

Die Landschaft hat sich verändert

Mit derartigen Kompassen, Karten und Wegweisern – sprich den Erkenntnissen der wirklichen Philosophen und Geistesforscher – verhält es sich allerdings ähnlich wie mit der Topographie einer Landschaft samt darin eingezeichneter Wander- und Verkehrswege sowie Flüssen: Diese Topographie bleibt nicht gleich, sondern ändert sich fortwährend. Jeder, der schon einmal mit einer alten Wanderkarte im Rucksack im Dickicht gelandet ist und jeder, der in Zeiten, als es noch kein Navi gab, mit seinem Auto nach einer zwar auf der alten Karte eingezeichneten, aber bereits umgebauten Straße gesucht hat, weiß davon ein Lied zu singen. Schon zu Lebzeiten können wir gravierende Veränderungen der uns umgebenden Topographie erleben.

Noch viel fundamentaler sind die über längere Zeiträume von Jahrhunderten und Jahrtausenden zustande kommenden Umwälzungen. Sogar die Erdachse und der geographische Nordpol bleiben nicht an derselben Stelle, sondern verschieben sich. Ähnliche Veränderungen betreffen auch die Konstitution des Menschen und seine psychische Verfasstheit. Es ist daher nicht ohne Weiteres möglich, auf alte Landkarten zurückzugreifen und Wege zu beschreiten, die zwar in früheren Kulturepochen real gültig waren, aber heute nicht mehr gangbar oder zumindest für die postmodernen Fahrzeuge, in denen wir uns heute fortzubewegen pflegen, nicht mehr angemessen sind.

So fühlen sich heute nicht wenige Menschen, die des Materialismus überdrüssig sind, von altindischem Yoga, der Spiritualität der Indianer oder dem Mystizismus des Mittelalters angezogen, machen dann jedoch die Erfahrung, dass sich derartige Wege, obwohl sie durchaus tiefgründige Wahrheiten enthalten, nur schwer in die heutige Zeit und ins Sozialleben integrieren lassen. Eine zunehmende Kluft zwischen Ideal und Alltagspraxis baut sich auf.

Aufgrund der mitunter drastisch veränderten Bedingungen braucht es daher für jede Zeit neu geeichte bzw. in authentischer Weise erarbeitete Kompasse, Karten und Wegweiser. Derartige Kompasse, Karten und Wegweiser, die den heutigen Zeitbedingungen und ihren Notwendigkeiten angemessen sind, darzustellen, ist das Anliegen dieser Website.

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Ein Kommentar

  1. hab auch schon nasse Füße. Das Licht am Ende des Tunnels lässt leider noch auf sich warten. Aber vielleicht marschieren wir ja wirklich einfach in die falsche Richtung wo es immer nur noch dunkler wird .. interessanter Artikel, danke.

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