Katharerkriege 2.0 – Der Kampf gegen den Geist

In vielerlei Hinsicht wird dem Bürger heute ja vollkommene Freiheit und Toleranz eingeräumt. Ein schier grenzenloses Angebot an Entertainment, Konsummöglichkeiten und bunter Extravaganz liegt vor uns ausgebreitet, sodass wir gar nicht wissen, wo wir zugreifen sollen.

Gibt es heute überhaupt noch etwas, was man in seiner Freizeit „nicht darf“? Was uns sogar streng verboten ist? Bei oberflächlicher Betrachtung wird ein Bürger, der abends über die Reeperbahn flaniert, eine solche Frage wohl nur mit einem augenrollenden Lachen quittieren.

Noch absurder würde es ihm vorkommen, wenn man ihm erzählte, dass die Inquisition des Mittelalters keineswegs der Geschichte angehört, sondern in neuen Gewändern ins 21. Jahrhundert hinübergelebt hat und heute akribisch über das wacht, was der Bürger glauben darf und was nicht. So wie es ein hochrangiger Vertreter der Kirche ganz unverhohlen ausdrückte:

„Scheiterhaufen können wir nicht mehr anzünden, aber es gibt andere Mittel …“

(Delegierter des Kardinals der katholischen Kirche; Interview mit Dr. H. Mynarek >>theologe.de, siehe auch Mynarek 2014, „Herren und Knechte der Kirche“, Ahriman Verlag)

Auch von Seiten der evangelischen Kollegen will man da nicht nachstehen. So bekundete einer der führenden „Weltanschauungsbeauftragten“ der evangelischen Kirche mit entwaffnender Ehrlichkeit sein Selbstverständnis:

„Wenn Sie bei mir auf Inquisition tippen, dann liegen Sie richtig …“

(Friedrich-Wilhelm Haack, Theologe und Beauftragter für Weltanschauungsfragen der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern)
– hinzufügend, „dass auch die Inquisition moderner geworden“ sei

Ganz in diesem Sinne verfügen die beiden Amtskirchen heute über eine bundesweite Infrastruktur an top ausgestatteten Büros und „Weltanschauungs“-Beamten, die auch umgehend scharfe Maßnahmen einleiten, um Menschen zur Räson zu bringen, die ein freies Geistesleben pflegen wollen. Diesmal nicht mit eisernen Jungfrauen und glühenden Beißzangen, aber nicht minder effektiv mit Mitteln medialer Diffamierung, Ausgrenzung, Kriminalisierung bis hin zu existenzieller Vernichtung.

Interessanterweise sind es hierbei weniger die landläufigen „Esoterik“-Angebote, welche die neuen Inquisitoren ins Fadenkreuz nehmen. Diese vielfach konsumierte (Profan-)Esoterik lässt man sogar gewähren, da die Kirchenwächter wissen, dass sie nicht die notwendige Substanz hat, um dem Kirchengebäude gefährlich zu werden. Ihr scharfes Augenmerk gilt hingegen all jenen Denkern, die aus eigenständiger Anschauung heraus eine profunde und ernsthafte Spiritualität formulieren – wo also diejenige geistige Substanz verortet wird, welche der Kirche selbst ermangelt.

Die Gesellschaft droht auf diese Weise geradewegs um dasjenige gebracht zu werden, was sie aktuell am dringendsten bräuchte: Neue Impulse und geistig inspirierendes Gedankengut, an dem sich der Mensch zu Freiheit und Würde entwickeln und Sinn finden kann.

Frühkindliche Indoktrination

Doch in einer Gesellschaft, die sich als aufgeklärt und emanzipiert versteht, wären solche Maßnahmen letztlich dennoch erfolglos, wenn man nicht bereits in der Kinderstube ansetzte. Es gibt wohl kaum jemanden unter uns, dem nicht im Schulunterricht (und wenn nicht im Religionsunterricht, dann eben durch fortwährende mediale Meinungsmache) eingepläut worden wäre, dass er sich in seinem Leben auf keinen Fall mit Gedankengut befassen dürfe, in welchem individuelle Spiritualität gelehrt wird. Denn jeder Glaube abseits der Kirche sei schließlich – „Sekte“! Alleine dieses Wort reicht fortan aus, um uns das Blut in den Adern gefrieren zu lassen. Wer will schon „Sekte“ sein? Man will aufgeklärt, rational, fortschrittlich sein, aber doch nicht „Sekte“. Aber was ist „Sekte“ überhaupt?

Dem gut erzogenen Bürger treten dazu sogleich entsprechende Bilder vor die Stirn, die ihm im Religionsunterricht mit auf den Weg gegeben wurden: So wären da z.B. das Jonestown-Massaker, die Mun-Sekte, schlimme Fälle von Abhängigkeit irgendwelcher Wirrköpfe, die es auf nichts anderes abgesehen haben, als andere Menschen abhängig zu machen und auszubeuten. Auch der vermeintlich konfessionsfrei Erzogene, der keinen Religionsunterricht besucht hat, wird wohl umgehend vielerlei Bilder aus Zeitungen oder aus Krimis (was viele nicht wissen: an deren Drehbüchern die mit den Medien verbundene Kirche eifrig mitschreibt) im Gedächtnis haben, in welchen den Lesern und Sehern vor Augen geführt wird, wozu die Beschäftigung mit spirituellen Inhalten ja unweigerlich führen müsse: Zu Abhängigkeit, Missbrauch und letztlich sogar zu Kriminalität.

Müssen wir „Politik“ und „Wirtschaft treiben“ verbieten?

Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass es auf religiösem Gebiet tatsächlich grobe Irrungen und Dekadenzerscheinungen gibt. Aber treten uns ebenso abstoßende Bilder vor das Auge, wenn wir das Wort „Politik“, „Wirtschaft“ oder „Finanz“ hören? Nein? Warum denn nicht? Grund genug hätten wir ja: Politiker, Wirtschafts- und Finanzmächtige haben in den letzten Phasen der Geschichte gewaltiges Leid und menschliche Katastrophen, Massaker, Ausbeutung und Elend mit zig Millionen Toten, Invaliden und Missbrauchten verursacht. Werfen wir sie deswegen alle in einen Topf und fordern wir ein Verbot, „Politik“ oder „Wirtschaft“ zu betreiben? Oder gibt es nicht doch auch eine aufrichtige und entwicklungsförderliche Art, Politik und Wirtschaft zu betreiben, sodass wir diese Zünfte trotz aller menschlichen Katastrophen, die sich bisher in ihnen abgespielt haben, weiterhin als unentbehrlich ansehen?

Religion bzw. Spiritualität abseits der Kirche ist jedoch per se als verderblich abzustempeln? Und jeder, der sich mit diesem Thema befasst, ein „Guru“ und potentieller Ausbeuter? Dass es Persönlichkeiten gibt, die aus lauteren Motiven und ohne Eigennutz eine zeitgemäße Spiritualität entwickeln wollen, ist nicht denkbar? Persönlichkeiten, die dasjenige, was Hegel als „Weltengeist“ oder Platon als „Urbildewelt“ bezeichnen, authentisch erforschen?

„Stacheldraht in unseren Köpfen“

Wie weit der „Stacheldraht in unseren Köpfen“, wie dies der deutsche Kabarettist Volker Pispers bezeichnet hat, bereits gediehen ist, zeigt eine Schilderung von Prof. Dr. iur. Martin Kriele, emeritierter Professor für Allgemeine Staatslehre und Öffentliches Recht und ehem. Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen. Prof. Kriele gilt als einer der führenden Verfassungsrechtsexperten in Deutschland. Sein bereits 2004 veröffentlichter Weckruf ist heute wohl aktueller denn je. Die darin geschilderten, von ihm als „faschistisch“ bezeichneten Tendenzen der Verfolgung von „Sekten“ haben sich mittlerweile zu einer regelrecht wahnhaften Hysterie gesteigert. Ähnlich wie in der McCarthy-Zeit gegenüber Menschen, die man als „Kommunisten“ bezeichnet hat oder in der NS-Zeit gegenüber Juden, Roma oder „den Intellektuellen“, herrscht aufgrund medialer Stigmatisierung die verbreitete Meinung, dass es um solche Elemente „nicht schad'“ sei. Und gerade in einer Zeit existenzieller Verunsicherung sind Sündenböcke, auf welche dasjenige projiziert wird, was die Gesellschaft ansonsten verdrängt, durchaus willkommen.

Wer meint, dass ihn solche Angelegenheiten nicht betreffen, irrt leider. Denn was hierbei an gesellschaftspolitischer Destruktion vonstattengeht, weitgehend unter Duldung oder sogar unter Kollaboration staatlicher Behörden, ist geradewegs der Grund, warum auch er und seine Kinder heute vor einer Zukunft stehen, die Menschsein immer mehr einschnürt und seiner Würde beraubt – in einem Klima der Verhärtung, der Entsolidarisierung, des Hasses und des retardierenden Festhaltens an einem Materialismus, der sogar den robusten Naturen unter uns mittlerweile den Atem raubt und sie in die Erschöpfung treibt.

Indem man dem Menschen eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Fragen des geistigen Lebens heute de facto untersagt, lässt man ihn darben wie einen Wanderer in der neoliberalen Wüste, dem man das erfrischende Wasser vorenthält.

Hexenjagd im 21. Jahrhundert

Als erschütternde Zeitzeugnisse zum gegenständlichen Thema sei neben dem nachfolgenden Aufsatz von Prof. Kriele auch auf ein neues Buch des Theologen Prof. Hubertus Mynarek („Die neue Inquisition, Sektenjagd in Deutschland“) sowie auf Publikationen des Turiner Juristen und Religionswissenschaftlers Prof. Massimo Introvigne hingewiesen, in welchen dieser mahnt, dass wir gerade unsere grundrechtlich verankerten Freiheitsrechte aufs Spiel setzen, indem gezielt ein hasserfülltes Klima gegen individuelle Bemühungen um ein freies Gestesleben erzeugt wird, die außerhalb der kirchlichen Institution stattfinden. Indem Ergebnisse seriöser Religionsforschung nicht wahrgenommen werden – gemäß denen solche neuen geistigen Impulse vielfach durchaus wertzuschätzen sind und eine zeitgemäße Weiterentwicklung erstarrter Religionsformen darstellen -, habe sich unter dem Kampfbegriff „Sekte“ ein Zerrbild von Spiritualität etabliert, das zu einem gefährlichen Klima gesellschaftlicher Intoleranz führe. Letztlich sei damit nicht nur die gesellschaftliche Pluralität, sondern auch die Freiheit bedroht, welche die Sektenkritiker vorgeben, schützen zu wollen. Dazu Prof. Introvigne:

„Wir leben nicht in irgendeiner Epoche der Geschichte. Wir leben in einer entscheidenden und heiklen Stunde, in welcher jeder aufgerufen ist, selbst Verantwortung zu übernehmen. Gerade in der sogenannten Frage der ‚Sekten‘ wird in letzter Zeit der Unterschied zwischen demjenigen, der die Freiheit wirklich liebt, und demjenigen, der sich mit ihrem Phantom zufriedengibt, deutlich und sichtbar.“

Der Religionsissenschaftler Prof. Hubert Seiwert tritt als sachverständiges Mitglied der Enquête-Kommission ebenfalls für eine Versachlichung der Diskussion über „sogenannte Sekten“ ein. Gemeinsam mit der deutschen Bundestagsabgeordneten Köster-Loßack verfasste Seiwert ein vielzitiertes siebzigseitiges Sondervotum zum Abschlussbericht der Enquête-Kommission. In ihm wird kritisiert, dass die umfangreichen Handlungsempfehlungen der Kommission in keinem Verhältnis zu den zugrundeliegenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die Gefährlichkeit solcher Gruppen stünden, die nicht nachweisbar sei. In einem Vorwort zu Introvignes Buch „Schluss mit Sekten“ (>>gko.uni-leipzig.de) appelliert auch Prof. Seiwert:

„Es ist unmöglich zu verhindern, dass Menschen religiös sind. Auch wenn in hochgradig säkularisierten Gesellschaften wie Deutschland oder Frankreich die Mehrzahl der Menschen wenig religiöse Bedürfnisse zu verspüren mag, so gibt es doch immer andere, die sich in ihrem Suchen nach religiöser Orientierung und Spiritualität einer radikalen Verweltlichung entziehen. Wer dies beseitigen wollte, müsste diese Menschen ausrotten. (…) Dass es sich dabei um religiöse Minderheiten handelt, liegt in der Natur der Sache. Wenn der Staat sich darauf einlässt, religiöse Minderheiten als >>Sektenproblem<< zu definieren, gerät er leicht auf die Bahn derjenigen, die Religion überhaupt als Problem ansehen, wenn sie nicht in der domestizierten Form staatstragender Kirchenbürokratien vorkommt.“

***

Faschistischer Ungeist in neuen Gewändern?
– Bestandsaufnahme eines Verfassungsrichters

(Prof. Dr. iur. Martin Kriele)

„Die faschistischen Züge der Sektenjagd“ von Professor Dr. iur. Martin Kriele Erschienen in „Zeit-Fragen“, Nr. 52. Der bekannte Staatsrechtler Professor Martin Kriele hat in einer Presseerklärung vom 24. August 1998 gesagt, die hysterische Verfolgung von religiösen und weltanschaulichen Minderheiten in Deutschland habe beinahe schon faschistische Züge angenommen. Zeit-Fragen hat ihn gefragt, ob er das näher erläutern könne. Seine Antwort macht deutlich, dass die prägnante Wortwahl nicht übertrieben ist. Die Sektenverfolgung zeigt tatsächlich beängstigende Tendenzen.

Ich werfe den Sektenjägern nicht vor, dass sie Faschisten seien. Die meisten sind in ihrer politischen Orientierung eher dem breiten Spektrum der Sozialdemokratie zuzuordnen. Es geht um bestimmte Elemente ihres Denkens und Agierens, die stark an die dreissiger Jahre erinnern.

1. Instrumentalisierung der Kirchen
Die kirchlichen Sektenbeauftragten instrumentalisieren die Kirchen im Dienst einer Ideologie der «Moderne» oder der sogenannten «modernen Weltanschauung». In ihren Kampforganen, z. B. dem «Berliner Dialog» oder dem Materialdienst der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen beziehen sie sich nicht auf Jesus Christus – der Name kommt gar nicht vor -, sondern auf beliebige Positionen, die gerade im Schwange sind. Die «Evangelische Bekenntnisbewegung» gehört zu den von ihnen angegriffenen und herabgesetzten Gruppen, ebenso wie andere evangelische und katholische Gemeinschaften, die noch an Christus und seine Auferstehung glauben. Diesen heidnischen Hintergrund haben sie mit den faschistischen sogenannten «Deutschen Christen» gemeinsam. Gegen diese richtete sich die Barmer Theologische Erklärung vom 30. Mai 1934: Sie weist die Einordnung der kirchlichen Verkündigung in andere weltanschauliche und politische Zusammenhänge zurück. Sie meint dies generell und grundsätzlich und trifft damit auch unseren heutigen kirchlichen Sektenjäger.

2. Aggressivität gegen Minderheiten
Ein typisch faschistisches Element ist die Aggressivität gegen wehrlose Minderheiten. Diesmal sind es nicht Juden, Kommunisten, Zigeuner, wohl aber «Sekten», die – wie z. B. Jehovas Zeugen – auch schon im Nazireich zu den Verfolgten gehörten. Die Sektenjäger sind bis zur Wut gereizt, wenn sie Menschen mit Überzeugungen begegnen, die vom vorherrschenden Trend abweichen. Das Ausnutzen ihrer Wehrlosigkeit, die Verächtlichmachung, das Höhnen und Spotten, das Bestreben, schon Schüler zu Ausgrenzung und Ablehnung zu erziehen, der völlige Mangel an menschlichem Respekt, kurz: die Intoleranz und Inhumanität sind Ausdruck des Machtgenusses, der aus der Zugehörigkeit zum herrschenden Gross-Trend entspringt.

3. Ausländerfeindlichkeit
Damit verbunden ist eine subtile Ausländerfeindlichkeit, die sich zwar nicht gegen Ausländer im Sinne der Staatsangehörigkeit oder Abkunft richtet, wohl aber gegen geistige Strömungen, die ihren Ursprung bei fernen Völkern haben, z. B. bei Indern, Chinesen, Tibetanern, Indianern. Nur ein Beispiel: In Neustadt-Rettin nahe Lübeck hat sich eine Yoga-Gruppe, die sich an dem indischen Philosophen Sri Aurobindo orientiert, ein Heim, «Schöpferisches Zentrum Oase», geschaffen. Es wurde Ziel eines Brandanschlags, bei dem die Bewohner beinahe ums Leben kamen. Die Tat ist von der Kriminalpolizei noch nicht aufgeklärt, vorausgegangen aber war eine wütende Hetze der Kieler und Lübecker Sektenbeauftragten gegen diese fremde Einrichtung, so dass ein Kausalzusammenhang höchstwahrscheinlich ist. Entlarvend ist auch die Perversion der Sprache: Während Ausländerbeauftragte die Aufgabe haben, Ausländer in Schutz zu nehmen, haben Sektenbeauftragte die Aufgabe, Rufmordkampagnen gegen Sekten zu initiieren und zu organisieren.

4. Ressentiment gegen geistigen Rang
Diese Kampagnen richten sich keineswegs nur gegen Menschen, die eher schlichten Geistes sind, wie z. B. Mun oder Baghwan, sondern auch und sogar besonders intensiv gegen bedeutende, profunde Denker, um die sich Freunde und Schüler scharen, und zwar gerade dann, wenn sie tiefgründig – aber eben «fremd» – argumentieren, wie z. B. Rudolf Steiner oder zurzeit der Dalai Lama. Zunehmend werden auch perfide Kampagnen gegen hochangesehene und erfolgreiche Psychologen und Psychotherapeuten entfacht, z. B. gegen Bert Hellinger, Karl-Heinz Wolfgang, Sepp Schleicher, die die Sektenbeauftragten von ihrem Amt her eigentlich gar nichts angehen. Was hier vor allem zum Ausdruck kommt, ist – neben den Konkurrenzinteressen von kirchlich angestellten Psychologen – das Ressentiment gegen subtile und differenzierte Geistigkeit, zumal wenn es sich mit Herzensgüte und sozialem Engagement verbindet. Unverkennbar ist die Ähnlichkeit mit den SA-Kampagnen gegen «die Intellektuellen», die viele bedeutende Gelehrte, Dichter, Denker und Psychotherapeuten, auch wenn sie nicht Juden waren, aus Deutschland vertrieben.

5. Rechtsfremdheit
Ein weiterer faschistischer Zug der Sektenjagd liegt in ihrer Rechtsfremdheit, d. h. in zahllosen Versuchen, die die Minderheiten schützenden Rechtsregeln zu durchlöchern, zu umgehen oder zu verletzen. Eine Reihe von Beispielen finden Sie in meinem Aufsatz «Die rechtspolitischen Empfehlungen der Sektenkommission» in der Zeitschrift für Rechtspolitik vom September 1998, S. 349ff., etwa die Missachtung – oder, wie in Schleswig-Holstein – die Durchbrechung der Datenschutzgesetze, die Indoktrination und Manipulation von Richtern an der Richterakademie usw. Ein weiteres Beispiel: In Berlin gibt es die charismatische «Gemeinde auf dem Weg», in der viele von der offiziellen Kirche enttäuschte evangelische Christen Gottesdienste feiern. Vor mir liegen Abschriften von Tonbandaufzeichnungen, die bei vertraulichen Gemeindestunden und Sitzungen der Gemeindeleitung gemacht wurden und die unter den Sektenjägern zirkulieren: Diese müssen dort Wanzen installiert haben. Auf einem der Protokolle, in dem über intime Details eines Gemeindemitglieds geredet wird, ist vermerkt: «Name ist der Sektenbeauftragten von Berlin, Fr. Ruehle, bekannt.» Eine Sitzung, in der es um Finanzfragen ging, leitete Pastor Wolfhard Margies mit den Worten ein: «Ich meine, dass wir unter uns sein sollten und dass niemand, der nicht Mitglied der Gemeinde ist, hierbleiben sollte. Bitte, ich meine es diesmal ziemlich deutlich.» Man kann sich das klammheimliche Vergnügen der Lauscher vorstellen, die den Text unter die Leute brachten. Die Indizien lassen den Verdacht aufkommen, dass eine Behörde des Berliner Senats so mit Methoden der Gestapo und der Stasi agiert haben könnte.

6. Diffamierender Stil
Auffallend ist ferner der aggressive, diffamierende, oftmals geradezu hysterische Stil der Sektenjagd, der dem Stil der Nazipresse durchaus vergleichbar ist. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat den Ehrenschutz zugunsten der Meinungs- und Pressefreiheit soweit zurückgenommen, dass von Klagen wegen Verleumdung und übler Nachrede in der Regel abzuraten ist (Eine Darstellung der Rechtslage: Kriele, NJW 1994, 1897 ff.). Wer klagt, riskiert ein Urteil, das besagt: die angegriffenen Äusserungen seien mit Rücksicht auf die Meinungs- und Wertungsfreiheit gerade noch zulässig. Alsdann verbreiten die Sektenjäger:

«XY, über den man laut Urteil vom… folgendes sagen darf:…». Der rechtsunkundige Leser meint dann, das Gericht habe die Aussage überprüft und bestätigt. Vor mir liegt ein Rundschreiben des Kirchenrates der EKD vom 30. Mai 1996, das die evangelischen Sektenbeauftragten ausdrücklich ermuntert, «guten Mutes» den Spielraum der «Meinungsfreiheit» voll auszuschöpfen, die Kirche komme für alle etwaigen Anwalts- und Gerichtskosten auf. Es erläutert die Rechtslage so: Die Meinungsfreiheit geht «sehr weit und lässt sogar zugespitzte und pointiert vorgetragene Äusserungen zu». Tatsachenbehauptungen «sind als widerrechtlich anzusehen, wenn es sich erwiesenermassen um unwahre Tatsachenbehauptungen handelt». Das kann nur als Aufforderung verstanden werden, vor falschen Tatsachenbehauptungen nicht zurückzuschrecken, wenn der Gegner ihre Unwahrheit nicht beweisen kann. So kann man sich z. B. auf anonyme «Aussteiger» oder sonstige persönliche Feinde des Gegners mit der Formel berufen: «Es wird berichtet», oder diese sogar über die Medien anonym Lügen verbreiten lassen, weil sich die Medien alsdann auf Informantenschutz berufen können und eine Aufklärung somit unmöglich ist. Das Rundschreiben kann man nur als Aufforderung an die Sektenbeauftragten verstehen, in ihren Diffamierungskampagnen bis an die äusserste Grenze des Zulässigen zu gehen und sorglos das Risiko einzugehen, dass diese Grenze überschritten werden könnte. Die Bürger meinen, was kirchliche Beauftragte in Ausübung ihres Amtes verbreiten, sei verlässlich: «Die Kirche lügt nicht.» Dieses Vertrauen in die religiöse und moralische Integrität der Kirchen wird ohne Scham ausgenutzt, um arglose Bürger um so wirksamer irrezuführen. Die Kirchenleitungen scheinen daran keinen Anstoss zu nehmen; jedenfalls ist dienstaufsichtliches Einschreiten bisher nicht bekannt geworden.

7. Intellektuelle Primitivität
Ein weiterer typisch faschistischer Zug ist, dass sich tückische Schläue mit intellektueller Primitivität verbindet. An die Stelle ernsthafter und respektvoller Auseinandersetzung mit religiösen Inhalten tritt die Beschimpfung der Gläubigen, z. B. als «Fundamentalisten» – um sie in die Nähe der wissenschaftsfeindlichen amerikanischen Bibelfundamentalisten oder der islamischen Terroristen zu rücken -, oder als «politisch rechtsstehend», «konservativ», «traditionalistisch», «antikommunistisch», «unkritisch», «Ethik-orientiert» usw. Damit gelten sie als «erledigt» wie früher durch das Label «jüdisch-bolschewistisch», so dass sich intellektuelle Anstrengungen erübrigen. Ein Beispiel bieten die Arbeitsblätter «Sekten» aus dem Klett-Verlag 1998, S. 45ff. Die Primitivität tritt auch in der Auseinandersetzung mit Kritikern der Sektenjäger zu Tage: Kritiker werden ohne Eingehen auf ihre Argumente einfach persönlich angegriffen. Vor allem heisst es, sie seien Sympathisanten der jeweils zur Diskussion stehenden Sekte. Zum Beispiel wurde einem katholischen CSU-Mitglied, der sich in seiner Eigenschaft als Universitätsprofessor für die Religionsfreiheit auch der Mun-Sekte aussprach, unterstellt, ein Mun-Anhänger zu sein; auf diese falsche Denunziation hin wurde er sogar vom bayerischen Wissenschaftsminister dienstlich gerügt. Reicht eine solche Unterstellung nicht hin, um den Kritiker auszuschalten, so wird er nach dem McCarthyistischen Modell «guilt by association» in diskreditierende Zusammenhänge gebracht: zum Beispiel, er habe in diesem Verlag oder jener Zeitschrift publiziert, wo auch XY etwas veröffentlicht habe, dem er folglich nahestehe – und dergleichen Unfug mehr. Mitunter werden lange Assoziationsketten aufgebaut. So wurde z. B. dem Turiner Religionswissenschaftler Professor Massimo Introvigne, der gewagt hatte, die Sektenjagd zu kritisieren – deutsch: «Schluss mit den Sekten», Diagonal Verlag Marburg folgendes angehängt: Er gehöre einer christdemokratischen Splittergruppe an, die gegen Abtreibung, Drogen und Sozialismus sei, und die folglich der internationalen Organisation «Tradition, family and property» nahestehe; diese habe «vermutlich» Beziehungen zur Mun-Sekte und zur freimaurerischen Loge P2, und diese habe bei Staatsstreichen und Todesschwadronen in Südamerika «im Hintergrund» gestanden. – Professor Introvigne ist ein durch und durch liberaler Katholik und ein Gelehrter von höchstem internationalem Ansehen, der aus grundsätzlichen Erwägungen für Religionsfreiheit eintritt. Ich habe nicht geprüft, wer alles schon in Zeit-Fragen zu Wort gekommen ist, wen diese Autoren kennen und mit wem die Bekannten ihrerseits einmal in Verbindung gestanden haben mögen, und bin mir des Risikos bewusst: «guilt by association» lässt sich immer irgendwie konstruieren.

8. Ängste des Umfelds
Wer in die Schusslinie der Sektenjäger geraten ist, macht die Erfahrung, dass sein Umfeld von Angst wie gelähmt ist: Freunde, Nachbarn, Geschäftspartner, der Verein, die Partei, die Gemeinde: alle fürchten, sie könnten in die Rufmordkampagnen einbezogen werden, und wenden sich ab – so wie man in der Nazizeit «seinen» Juden nicht mehr kannte, mit dem man zuvor gute persönliche oder berufliche Kontakte pflegte. Verlobungen werden gelöst, Verträge gekündigt, behördliche Genehmigungen verweigert, Zusagen zurückgezogen, Steuerbescheide neuerlich überprüft, Gemeinnützigkeitsanerkennungen widerrufen, Veröffentlichungen von Inseraten verweigert, anwaltliche Rechtsvertretungen abgelehnt usw.

9. Erpresste Anbiederei
Ein typisches Symptom für faschistischen Terror ist es, dass auch Mitbetroffene in Distanz zu anderen «Sekten» gehen und sich an der Kampagne gegen sie beteiligen, in der Hoffnung, bei den Sektenjägern gut Wetter zu machen. Ein Beispiel: Die Anthroposophen wurden von der Enquête-Kommission «Sogenannte Sekten und Psychogruppen» im Zwischenbericht übel angegriffen und auch im Endbericht noch diskreditierend erwähnt; doch ihre Zeitschrift «Novalis» reiht sich in die Reihe der Sektenjäger ein, empfiehlt deren «Literatur», macht sich deren Hetze gegen Professor Introvigne, den derzeit wirkungsvollsten Verteidiger der Geistesfreiheit, zu eigen und greift ihn wie folgt an: «Sektenkritiker weisen darauf hin, dass Introvigne immer wieder einige sogenannte Sekten in Schutz nimmt. Die gemeinsame weit rechts stehende politische Linie dürfte hier verbindender wirken als verschiedene religiöse Überzeugungen.» (Heft 11, 1998, S. 38) Durch solche Anbiederei wird man freilich die Angriffe der Sektenjäger nur verzögern, auf Dauer aber kaum abwenden können. Denn, wie das Sprichwort sagt: Wer mit den Wölfen heult, wird etwas später gefressen.

10. Konformität und Mitläufertum
Typisch faschistisch ist auch das Streben, Gruppen zu spalten, den kleineren Teil zu isolieren und den grösseren zur Distanzierung von ihm zu bestimmen. Zum Beispiel wurde der VPM Opfer einer Kampagne, weil er CDU-Positionen in der Drogen- und Bildungspolitik mit besonderer Vehemenz verfocht; daraufhin beteiligten sich einige CDU- und CSU-Politiker an dieser Kampagne. Ihre Stiftungen luden den Hauptverfolger zu Vorträgen ein, und der katholische Sektenbeauftragte Gasper sekundierte ihm wider besseres Wissen mit dem – mir gegenüber geäusserten – Argument: «Ich kann doch meinen evangelischen Kollegen nicht im Regen stehen lassen.» Die Junge Union beteiligte sich mit einer Broschüre «In-Sekten – nein danke», deren Titelblatt Insekten zeigt, die mit einer Fliegenklatsche erschlagen werden. Dass ausgerechnet die Junge Union das Tabu der Ungeziefer- und Säuberungsmetaphorik durchbrach, das selbst die wüstesten Sektenhetzer noch respektiert hatten, zeigt wieder einmal, welchen Sog zum Mitlaufen, ja Überbieten Diffamierungskampagnen erzeugen.

Seitdem ich – gemeinsam mit anderen Universitätsprofessoren – die Sektenjagd in Deutschland öffentlich kritisiert habe, gingen mir von vielen Seiten erschütternde Berichte über fast unglaubliche Vorgänge zu. Unschuldige Gottsucher – ernsthafte, ehrfürchtige, betende, meditierende, herzensgute, sozial engagierte Menschen – werden isoliert und bedroht, lächerlich und verächtlich gemacht. Sie verbringen ihre Nächte schlaflos, geängstigt und in Tränen; manche erwägen die Emigration – wie einst zur Nazizeit. Der Papst räumt in seiner «Verkündigungsbulle des grossen Jubiläums des Jahres 2000» die Ungerechtigkeiten der Ketzer- und Hexenverfolgung ein und bittet dafür um Vergebung. In diesem ehrenhaften Bestreben fallen ihm deutsche Behörden und Kirchenleitungen in den Rücken und setzen ihn dem Hohn aus: es habe sich wenig geändert. «Sekte» ist ein anderes Wort für «Ketzer», und für einen Ketzer galt früher und gilt in Deutschland heute wieder: «Exterminandus est» – wenn nicht durch Feuer (wie in der Nähe von Lübeck), dann durch Rufmord, Isolation und wirtschaftliche Vernichtung. Es herrscht ein Klima des Terrors und der Hysterie, und es ist keineswegs übertrieben, zu sagen, dass es beinahe schon faschistische Züge angenommen hat.

l Prof. Dr. iur. Martin Kriele Geb. 1931, em. Professor für Allgemeine Staatslehre und Öffentliches Recht, ehem. Richter am Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen. Professor Kriele gilt heute als einer der führenden Verfassungsrechtsexperten in Deutschland.

Quelle: http://docplayer.org/amp/52671658-Die-faschistischen-zuege-der-sektenjagd.html

Zum Thema Individuation und Diskriminierung siehe auch www.selbstwerden.de

RSS
Follow by Email
Facebook
Twitter

Ein Kommentar

  1. ….eigentlich nicht lange her….
    Menschen sollten nicht vergessen, dass 1740 die letzte „Hexe“ verurteilt wurde.
    Vom 15.-18.Jhd. 60 000 unschuldige Menschen durch die Inquisiton verurteilt und getötet wurden.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.