Rudolf Steiner

„Hier stand ein Mensch, der das deprimierende Ignorabimus durchbrach und ein Wissen über die letzten Dinge produzierte, also ein Phänomen! Und doch wieder kein Phänomen, wenn man ihn unter den Menschen sah, gesellig, liebenswürdig, ritterlich voller Humor, ja er konnte herzlich lachen trotz seines tief ernsten Wesens.“  (Dr. Ita Wegmann)

Nicht jeder hieß das Durchbrechen des „Ignorabimus“ bzw. der Ignoranz so willkommen wie die Ärztin Ita Wegmann. In diesem Ignorabimus (nach einem Ausspruch des Physiologen Du Bois-Reymonds: „Ignoramus et ignorabimus – lat. „Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen“), in dem es sich nach Ansicht von Du Bois-Reymonds gerade die etablierte naturwissenschaftliche Welt gerne bequem einrichtet, fühlten sich naturgemäß viele gestört, als Dr. Rudolf Steiner an der Schwelle zum 20. Jahrhundert mit seiner Anthroposophie vor die Welt hintrat.

Schon zu Lebzeiten schieden sich daher an Rudolf Steiner meist schnell die Geister. Die einen haben ihn aufgrund seiner geistigen Erkenntnisfähigkeit zutiefst verehrt, andere haben sich in ihrem bisherigen Selbstverständnis erschüttert gefühlt und wütend abgewandt.

Rezeption und Gegnerschaft

Es gibt in der ganzen heutigen Kulturwelt keinen größeren geistigen Genuss, als diesem Manne zuzuhören, als sich von diesem unvergleichlichen Lehrer „Vortrag halten zu lassen“.
(Christian Morgenstern)

Während Persönlichkeiten des europäischen Geisteslebens wie Christian Morgenstern, Albert Schweitzer oder Le Corbusier ihre uneingeschränkte Wertschätzung für Rudolf Steiner bekundeten, gab und gibt es auch weiterhin eine große Anzahl an kirchlichen und weltlichen Autoritäten, welche  sich alle Mühe gaben bzw. geben, ihn zu diskreditieren. Es existiert ein eigener Sammelband, in welchem die zu Lebzeiten angewandten Diffamierungstechniken seiner Gegnerschaft dokumentiert sind (GA 255B – siehe fvn-archiv.net). Man kann aus diesen Zeitzeugnissen Vieles lernen. Denn die hierin beschriebenen, systematischen Methoden sind im Prinzip die gleichen wie sie heute immer noch angewendet werden, um unerwünschte Persönlichkeiten aus dem gesellschaftlichen Diskurs zu verdrängen und Impulse zur Erneuerung bestehender Strukturen möglichst schon im Keim zu zersetzen. Entsprechende Kampagnen können im Zeitalter des Internets und der globalen medialen Vernetzung heute mit noch ungleich größerer Breitenwirkung durchgeführt werden.

Interessant ist die Haltung Steiners zu den Motiven seiner Gegnerschaft, die seiner Ansicht nach in Zeiten eines auf ein Höchstmaß gesteigerten Materialismus und Verlustes geistigen Wahrheitsbewusstseins unweigerlich auftreten müsse: So überzeugt die von den Gegnern der Anthroposophie durchgeführten Kampagnen auch anmuten mögen und so leicht eine unkritische Leserschaft derartige Diffamierungen auch zu übernehmen geneigt ist, so diametral entgegengesetzt sei nach Ansicht Steiners das innerste Motiv der Gegner wie auch jedes heutigen Menschen: Auch wenn sein unter den materialistischen Zeitumständen herangebildeter äußerer Intellekt sich vehement dagegen sträube, so sehne sich jeder Mensch von einer tieferen Schicht seines Wesens heraus nach einer spirituellen Art der Entwicklung, welche ihn wieder in Verbindung mit den geistigen und seelischen Daseinseben bringt. Eine Verbindung, welche dem Menschen im Zuge intellektualistischer Verstandeskultur notwendigerweise abhanden kommen musste, welche es heute jedoch wiederzuerringen gelte – im Unterschied zu früheren Kulturepochen, wo diese Verbindung gleichwohl selbstverständlich wie unbewusst bestanden habe, diesmal jedoch auf bewusste Weise.

Steiner selbst zur Agitation der Gegner:

„Die Logik der Gegner der Geisteswissenschaft ist im Grunde genommen nichts anderes, als eine Entschuldigung der eigenen Seele über die Furcht, die man vor ihr hat. (…) Sie wird deshalb von der Welt bekämpft, weil die Menschen sich nicht einlassen wollen auf so schwierige Sachen, eben weil sie ihnen zu schwierig sind.“

„Ist ein Interesse für eine einseitige Richtung vorhanden, so findet sie immer eine Stütze; die Wahrheit im allgemeinen aber wird immer angefochten und alles Mögliche geschieht, um die Wahrheit an sich gar nicht herauskommen zu lassen … dass wir uns voll bewusst sind, dass die Wahrheit, die gesucht wird, von vielen, vielen Seiten angefochten werden wird.“

Bemerkenswert ist insbesondere eine Aussage Steiners, wonach gerade diejenigen, welche die Spiritualität zu Lebzeiten verachtet oder bekämpft haben, im nachtodlichen Dasein der Seele einen großen Mangelzustand und damit die größte Sehnsucht nach spirituellem Wissen verspüren:

„Man findet kaum irgend jemand, der in eines Anthroposophen Umgebung war, wenn er noch so obstinat dagegen war, der nicht in seinem Unterbewusstsein einen Hang zur Geisteswissenschaft bekommen hätte. Man findet gerade bei den mit Geisteswissenschaft zusammenhängenden Gegnern, dass sie nach dem Tode eine Wunschessphäre haben, von der man mit aller Entschiedenheit sagen kann: sie bringt sich dadurch zum Ausdruck, zur Geltung, dass sie leidenschaftlich dann nach spiritueller Wissenschaft verlangt.“ (Zit. aus GA 140, S. 114)

Das 21. Jahrhundert: Neuer Anfang oder Grab aller Zivilisation

Allerdings bleibe der Menschheit nach Ansicht Steiners nicht mehr allzuviel Zeit, um die bloße Verstandeskultur der letzten Jahrhunderte durch eine spirituelle Weltsicht bzw. Lebensweise abzulösen. Diejenige Prozedur, die auch in Platons Höhlengleichnis in prototypischer Weise geschildert ist, um einen „Sonnenläufer“ bzw. einen Kundigen der geistigen Daseinsebenen zu verwerfen und zu bekämpfen, können wir also nicht mehr ad infinitum immerzu weiter wiederholen. Nach Ansicht Steiners läuft die (Entwicklungs-)Uhr diesbezüglich mit der Milleniumswende bzw. mit den Jahren an der Schwelle des 3. Jahrtausends ab. Dann – also in unseren heutigen Tagen – soll es sich entschieden haben, ob die Menschheit „entweder an einem neuen Anfang oder am Grabe aller Zivilisation“ stehen werde. Was für einen solchen neuen Anfang notwendig sei, sprach Steiner ebenfalls aus: dass sich eine genügend große Anzahl an Menschen findet, die „in ihrem Herzen Intelligenz mit Spiritualität verbinden“ (GA 240).

Der Versuch, die aufkommende globale (ökonomische, ökologische, soziale und kulturelle) Krise durch rein technokratische und intellektualistische, also scheinbar pragmatische Ansätze zu lösen, würde sich seiner Ansicht nach hingegen als ausweglose Sackgasse erweisen.  

Ein Lebenswerk zur Überwindung des Materialismus

Gerade wenn sich also bei Namen wie Rudolf Steiner die Geister scheiden und ein derartiges Maß an intellektueller, journalistischer und klerikaler Energie aufgewendet wird, um sein Werk der Welt möglichst unzugänglich zu machen, lohnt es sich, näher hinzusehen.

Über Ursprung, Sinn und Ziel der Menschheits- und Erdenentwicklung gibt Rudolf Steiner in seinem 354 Bände umfassenden Vortrags- und Schriftwerk auf genauso detaillierte Weise Auskunft wie ein Geologe Gebirgszüge zu beschreiben vermag. Auch darüber, wo sich die Seele vor der Geburt, nach den Tode und während des Schlafes befindet. Mit seinem Werk eröffnet Steiner jedem interessierten Leser ein neues, dem intellektuellen Anspruch der Gegenwart genügendes Verständnis geistiger Daseinsebenen, mit welchen der Mensch immerzu in Wechselwirkung steht.

„Man gelangt dazu, wenn man sich ganz von dem Bewusstsein durchdringt, dass Gefühle und Gedanken wirkliche Tatsachen sind, genauso wie Tische und Stühle in der physischen-sinnlichen Welt. In der seelischen und in der Gedankenwelt wirken Gefühle und Gedanken aufeinander wie in der physischen die sinnlichen Dinge. Solange jemand nicht lebhaft von diesem Bewusstsein durchdrungen ist, wird er nicht glauben, dass ein verkehrter Gedanke, den er hegt, auf andere Gedanken, die den Gedankenraum beleben, so verheerend wirken kann wie eine blindlings losgeschossenen Flintenkugel für die physischen Gegenstände, die sie trifft.

Ein solcher wird sich vielleicht niemals erlauben, eine physische-sichtbare Handlung zu begehen, die er für sinnlos hält. Er wird aber nicht davor zurückschrecken, verkehrte Gedanken und Gefühle zu hegen. Denn diese erscheinen ihm ungefährlich für die übrige Welt. In der Geheimwissenschaft kann man aber nur vorwärtskommen, wenn man auf seine Gedanken und Gefühle ebenso achtet, wie man auf seine Schritte in der physischen Welt achtet. Wenn jemand eine Wand sieht, so versucht er nicht,  geradewegs durch dieselbe durchzurennen; er lenkt seine Schritte seitwärts. Er richtet sich eben nach den Gesetzen der physischen Welt. – Solche Gesetze gibt nun auch für die Gefühls- und Gedankenwelt.“  
(R. Steiner in „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“, GA10)

Das umfangreiche Werk Rudolf Steiners wird zum Teil erst heute in seiner Bedeutung erkannt und erscheint aktueller denn je. Der bekannte Philosoph Peter Sloterdijk bezeichnet Steiner als den „größten mündlichen Philosoph des 20. Jahrhunderts“. Der vom BR als Jahrhundertkünstler bezeichnete Joseph Beuys  ging in der Einschätzung der Bedeutung Rudolf Steiners sogar so weit zu sagen, dass unsere Zukunft nur dann ein menschliches Gesicht haben könne, wenn wir uns die Anthroposophie zu eigen machen.

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